In meiner Bibliothek gestöbert
Hier stelle ich jeden Monat Bücher aus meiner Bibliothek vor, die mir aus diesem oder jenem Grund wichtig sind. Im August 2025 geht es um Carl Justis „Diego Velazquez“:
Wann immer ich die Alten Meister in Dresden besuchte, zog mich ein großformatiges Gemälde von José de Ribera an, das im Treppenhaus hing (oder vielleicht noch hängt) und die heilige Agnes zeigt. Mit gefiel, dass es eine schnucklige Agnes ist, das Sujet fand ich interessant und auch die Malweise: Das Bild besteht nur aus Brauntönen.
Bei Carl Justi, einem der großen Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts, las ich dann, dass die Tochter Riberas Modell für die Agnes stand und dass jenes Töchterchen später an den falschen Mann und auf Abwege geriet. Das ist nicht schön, aber noch weniger schön war das Schicksal der Agnes: Sie sollte ins Bordell, weigerte sich gegen die Zumutung, ihre Reize auszustellen, und wurde deswegen enthauptet.
Die Geschichte von Ribera und seiner Tochter entnahm ich Justis Buch über Diego Velazquez. Ich besitze es in einer DDR-Ausgabe von Reclams Universalbibliothek, gekauft vor Jahrzehnten als Student (ich kaufte so ziemlich jedes Buch aus der Reihe, wenn ich es kriegen konnte), jetzt im Ruhestand erst vollständig gelesen.
Die Geschichte von Ribera und seiner hübschen Tochter gehört zu einer der vielen Abschweifungen, die Justi sich erlaubt. Der vollständige Titel seines Werkes lautet ja auch „Diego Velazquez und sein Jahrhundert“. Über Velazquez selbst gibt es gar nicht viel zu sagen. Sein Genie wurde früh erkannt. Als junger Maler kam er an den spanischen Königshof und verblieb sein ganzes Leben dort, am Schluss sogar als Hofmarschall. Seine Malweise ist unübertroffen, das muss nicht erst kunsthistorisch diskutiert werden.
Umso mehr erzählt Justi über das Jahrhundert, über die politischen Verhältnisse, über das Leben in Spanien, über die Malerei jener Zeit, wobei der Blick weit über Spanien hinausgeht, und der Spanier Ribera ist da nur einer von vielen, die ausführlich Erwähnung finden. Es ist ein so unfassbar gelehrtes und dickes Buch (meine Ausgabe mit 400 Seiten ist eine gekürzte), das der Leser nur durchhält, wenn er sich Justis Erzählweise einfach hingibt, auch da, wo es enorm speziell wird. Der Gewinn übersteigt allemal die Zumutung.
Schon der Anfang, so könnte auch ein Roman beginnen: „Diego de Silva Velazquez – dieser Name war vor hundert Jahren diesseits der Pyrenäen noch wenig gehört worden, am wenigsten in Deutschland. Der Kreis der Maler erster Ordnung schien längst geschlossen, und niemand ahnte, dass fern im Südwesten, in den Schlössern von Madrid und Buen Retiro, die Rechtstitel eines Künstlers verborgen lägen, der auf einen Sitz unter jenen oberen Göttern vollen Anspruch hat.“